Nik Linder: Der letzte Atemzug vor dem Weltrekord

Nik Linder ist seit mehr als zehn Jahren Apnoetaucher und Atemtrainer. Auf dem PARI Blog und auf Instagram begleiten wir ihn in diesem Jahr. Diesmal berichtet er von seinem Weltrekordversuch – und dem letzten Atemzug, bevor es losgegangen ist.

Der Moment kurz vor dem Weltrekordversuch

Ich muss die Augen zukneifen: Um mich herum strahlt das verschneite Alpenpanorama rund um den Weissensee extrem hell. Im Gegensatz dazu wirkt das Eisloch vor mir Dunkelschwarz. Ich muss schlucken. Ich habe die Worte eines Trainers in meinem Kopf: „Lächle, dann schüttest du Glückshormone aus!“ Ich lächle, etwas verkrampft, aber ich lächle.

Ja, ich will diesen Tauchgang genießen. Denn es war ein weiter Weg hierher. Wenn ich nachher meinen letzten tiefen Atemzug nehme, dann bleibt mir nicht mehr viel anderes übrig, als den Weltrekord im Streckentauchen unter Eis zu brechen. Dieser liegt bei 100 Metern – aufgestellt vom Österreicher Christian Redl.

Die Yachtdiver, die Tauchschule vor Ort, hat Eislöcher im Abstand von 108 Metern gesägt. Lediglich ein Notloch in der Mitte der Strecke böte im Falle eines Problems einen „Notausgang“. Doch wenn es Probleme gäbe, dann würden die erst am Ende der Strecke auftauchen. Zero oder Hero heißt die Devise.

Die Strecke ist mit einer dünnen Angelschnur markiert. Gut genug, um die Richtung zu halten – zu dünn, um sich daran entlangzuziehen. Begleitet werde ich von zwei Sicherungstauchern mit Tauchgerät, die sich von einem Scooter ziehen lassen. Durch meine hydrodynamische Haltung und den Vortrieb meiner Monoflosse wäre es ihnen ohne diese „Unterwassertorpedos“ nicht möglich, mir zu folgen. Gleichzeitig fungieren sie als Kameraleute, weil der Weltrekordversuch durch Guinness nur dann anerkannt wird, wenn er lückenlos dokumentiert wird.

Wie alles begonnen hat: die Idee zum Weltrekord

Mein Tauchgang begann vor über einem Jahr mit der Idee zu diesem Weltrekord. Damals gehörte mir das Tauchcenter Freiburg, ein Tauchsportgeschäft mit Tauchschule, Tauchshop und Reisebüro. Hier ging die Hochsaison von April bis Oktober. Das bedeutete mindestens sechs Tage in der Woche und fast an jedem Abend Verkauf, Tauchausbildung und Tauchausfahrten.

In diesen Monaten habe ich zwar versucht, mindestens zweimal in der Woche zu trainieren. Aber dieses Trainingspensum reichte gerade so aus, um meine Form zu halten – nicht aber um mich zu verbessern. Ab Oktober wurde es besser und es stand mehr Trainingszeit zur Verfügung. Topfit war ich im Januar/Februar.

Das Problem: Weltmeisterschaften und Wettbewerbe liegen fast alle im Sommer, also dann wenn ich keine Zeit hatte. Aber im Winter gab es Eis und einige Verrückte, welche mit einem Atemzug unter Eis tauchten. Als ich das erste Mal von diesen Rekorden hörte, war ich begeistert. Ich wollte auch einer dieser Athleten sein, die mental und körperlich so stark sind, dass sie die Kälte, die Dunkelheit und die geschlossene und undurchdringliche Eisschicht ausblenden konnten.

Das Training für den Rekordversuch im Eistauchen beginnt

Mein Plan war es, so oft wie möglich in die kalten Baggerseen rund um meine Heimat Freiburg zu springen und zu trainieren. So würde ich mich an den schleichenden Temperaturverlust gewöhnen und viele Tauchgänge unter schwierigen Bedingungen absolvieren.

Je öfter ich mich ins kalte Wasser zwang, umso weniger würde ich von den unwirtlichen Bedingungen am Weissensee überrascht werden. Je schlechter das Wetter im Vorfeld, umso besser fühlte ich mich vorbereitet. Das Ziel, der erste Weltrekord unter Eis, war mir dabei so wichtig, dass ich kein einziges Mal Zweifel bekam. Oder, wie meine Freunde und Bekannten, lieber gemütlich zuhause geblieben wäre oder auf dem Weihnachtsmarkt einen Glühwein getrunken hätte.

Ich fühlte mich gut vorbereitet, denn ich hatte viele anstrengende Tauchgänge unter unwirtlichen Bedingungen gemacht. Aber auf eines konnte ich mich in den Seen rund um Freiburg nicht vorbereiten – das Tauchen unter Eis. So schön es ist, in der wärmsten Stadt Deutschlands zu leben, so ungünstig ist das für einen Eistaucher wie mich.

Die Challenge beim Weltrekordversuch

Zu den größten Herausforderungen gehören die Höhe und der geringere Luftdruck. Eissichere Seen befinden sich in großen Höhen, meistens in den Alpen. Die Kälte spielt eine wichtige Rolle. Das Wasser wird zwar maximal vier Grad kalt. Direkt unter dem Eis – also genau dort wo ich in ungefähr zwei Metern Tiefe meine Strecke tauchen würde – ist das Wasser aber nur zwei Grad kalt. Ich tauche dort, wo sich der Aggregatzustand von flüssig zu fest, von Wasser zu Eis verändert.

Auch die kalte Bergluft kann einen Rekordversuch erschweren oder sogar von vornherein ausschließen. Temperaturen von -15 bis -20 Grad kann es am Weissensee in Österreich schon mal geben. In dieser kalten Luft würde kein Rekordversuch möglich sein. Die kalte Luft reizt die Atemwege zu sehr. Dadurch wäre die vollständige Einatmung von 100 % der totalen Lungenkapazität nicht möglich.

Wie bleibt man mental entspannt?

Die größte Herausforderung aber ist der Kopf. Ein Apnoetaucher kennt zwei Phasen des Tauchgangs, die Easy Going Phase und die Struggle Phase. Während der Easy Going Phase ist alles easy – wie der Name schon sagt. Als Taucher ist man entspannt, der Tauchreflex senkt den Herzschlag und zentralisiert die Blutversorgung hauptsächlich auf die lebenswichtigen Organe, Herz, Hirn und Lunge.

Die Phase empfinden wir als sehr entspannend und meditativ. Da wir nicht atmen, wird auch das „Abfallprodukt“ unserer Atmung, das CO2, nicht abgeatmet. Erreicht der CO2-Spiegel eine gewisse Schwelle, kontrahiert das Zwerchfell – der Atemreiz setzt ein. Mit dem Atemreiz beginnt auch das Kopfkino. Der innere Kritiker wird lauter: „Was machst Du hier? Das macht keinen Spaß! Das ist ungesund. Lass es bleiben!“ und so weiter.

Als Apnoetaucher lernt man mithilfe verschiedener Entspannungstechniken trotz Kontraktionen entspannt zu bleiben. Beliebt sind dabei der Bodyscan aus der Achtsamkeitsmeditation: Der Kopf ist damit beschäftigt, nach und nach den Körper wahrzunehmen und bei Anspannung loszulassen. So entspannen Körper und Geist. Grundsätzlich gilt es, ein positives Mindset beizubehalten und sich weniger auf das zu konzentrieren, was fehlt – in diesem Fall Atemluft. Sondern sich an dem zu erfreuen, was man hat: zum Beispiel einen entspannten Körper dank des Bodyscans.

Für meinen ersten Weltrekord traute ich mir selbst nicht über den Weg. Würde ich mich mental so stark fühlen, dass ich mit den aufkommenden Zweifeln klarkommen würde? Ich war mir nicht sicher. Sollte ich dem negativen Denken verfallen, bestünde die Gefahr einer aufkommenden Panik, die unter Eis lebensgefährlich sein würde. Ich versuchte es mit gutem Zureden. Wenn ich mir die ganze Zeit nur schöne, freundliche und wohlwollende Sachen sagen würde, dann käme mein innerer Zweifler überhaupt nicht zu Wort. Das war meine Strategie.

Perfektion in den Basics

Unmittelbar vor dem Rekord folgte ich meinen Routinen, die mir Stabilität gaben. Beim Tauchen versuchte ich im Training wenige Bewegungsabläufe zu perfektionieren, so dass sie im Muskelgedächtnis verankert waren und ich darüber nicht mehr nachdenken musste. Wie ich in den Tauchgang startete, welche Geschwindigkeit und Flossenschlaghäufigkeit ich einhielt, wie ich auftauchen würde und wie ich das wichtige Oberflächen-Protokoll für die offiziellen Schiedsrichter ausführen würde – das alles hatte ich hundertfach geübt und verinnerlicht.

Und obwohl ich mich gut fühlte, weil ich sehr intensiv und fokussiert trainiert hatte und mich auch angesichts des Rekordversuches locker fühlte, überkam mich wie vor jedem wichtigen Wettkampf oder nationalen Rekordversuch eine Verspannung des Nackens und eine leichte Erkältung. Irgendwann merkte ich, dass dies Anzeichen von Stress für mich waren, denn nach den Ereignissen verschwanden sie fast augenblicklich.

Am meisten nervte mich vor Rekordversuchen, dass um mich herum scheinbar alle krank wurden. Gerade im Winter schien es alle Menschen in meiner Nähe zu erwischen. Fast paranoid drückte ich keine Türklinken mehr mit der bloßen Hand, mied Gespräche mit verschnupften und erkälteten Menschen und zog mich sozial ein wenig zurück.

Zur Sicherheit inhalierte ich vor dem Rekordversuch immer öfter mit meinem PARI SINUS2, um meine Atemwege sauber zu halten und Luft durch die Nase zu bekommen. Gerade die trockene Heizungsluft ist ungünstig für Atemwege, die in Kürze Höchstleistung erbringen sollen.

Scheitern gehört dazu

Ich saß am Eisloch und lächelte. Nach dem Versuch sagten einige: „Mensch, du warst dir richtig sicher, du warst so positiv – du hast sogar gelächelt!“ So sicher war ich mir aber ehrlich gesagt nicht, ich dachte eher: „Lächle, schaden kann es nicht.“ Bevor ich mich ins Wasser gleiten ließ, sagte ich mir noch einmal: „Nik, du bist einen weiten Weg gegangen, um hierher zu kommen. Du bist gesund, es geht dir gut, du bist perfekt vorbereitet. Die Bedingungen sind optimal. Deine Sicherungstaucher sind da und extrem zuverlässig. Du kannst jetzt lostauchen.“

Wer einen Weltrekord brechen möchte, muss damit leben, dass es vielleicht nicht klappt. Umso besser man vorbereitet ist, umso wahrscheinlicher ist der erfolgreiche Ausgang des Versuches. Es gibt aber keine Garantien für den Erfolg. Wenn man scheitert, was ich auch schon erlebt habe, ist es tröstlich, wenn man sich im Nachhinein keinen Vorwurf machen kann: weil man zu wenig oder nicht diszipliniert genug trainiert hat. Wer das Scheitern nicht akzeptieren kann, sollte so einen Versuch nicht unternehmen.

Der letzte Atemzug vor dem Rekordversuch

Ich fülle meine Lunge ein letztes Mal mit der kühlen Bergluft: zunächst in den Bauch, dann in den Brustkorb. Bis meine Lunge zu 100 % voll ist. Dann gleite ich ins Wasser und tauche los. Sehr schnell gewöhnen sich die Augen an das Dämmerlicht. Was vorher so dunkel und unwirtlich ausgesehen hat, sieht nun ganz okay aus.

Mit jedem Flossenschlag tauche ich entlang der Angelschnur immer weiter unter das Eis. Dabei rede ich mir freundlich zu: „Das machst du super, Nik! Bleib entspannt, heute ist ein guter Tag, bleib locker!“ Nach weniger als zwei Minuten erreiche ich das Eisloch und tauche am Ende der Leine auf.

Drei bis vier Atemzüge, in denen ich schnell einatme, kurz den Atem anhalte und gegen die Lippenbremse ausatme, sorgen dafür, dass sich meine Bronchien öffnen. So kann ich meinen Körper schneller mit Sauerstoff versorgen. Innerhalb von 15 Sekunden schaffe ich es, mein Protokoll zu beenden: Maske abnehmen, Daumen und Zeigefinger zusammen zu bringen und so ein Okay-Zeichen zu formen und anschließend „I am okay“ zu sagen.

Nach 30 Sekunden zeigen mir die beiden Schiedsrichter des Apnoe Weltverbandes AIDA eine weiße Karte – das Zeichen für einen gültigen Rekordversuch. Am Ende schaffe ich als erster Mensch eine Strecke von 108 Metern unter Eis.


Über Nik Linder

Nik Linder hat mehrere Weltrekorde im Streckentauchen unter Eis und mehrere nationale Apnoe-Rekorde gebrochen. Als erster Mensch hat der begeisterte Seatrekker den Bodensee schwimmend und ohne Support umrundet. Nik ist als Atem- und Entspannungstrainer tätig und hat mit „Relaqua“ eine Entspannungsmethode erfunden, die ihre Wurzeln im Apnoetauchen, dem Atemyoga und der Achtsamkeit hat. Als Autor, Speaker und Apnoetrainer ist er vor allem im deutschsprachigen Raum aktiv, seine Reisen führen ihn aber in die ganze Welt.


Mehr zu Nik Linder


Diese Themen könnten Sie auch interessieren


Hinweis: Bei den im Erfahrungsbericht getroffenen Aussagen handelt es sich um die individuelle Sichtweise der berichtenden Person. Diese spiegeln nicht zwangsläufig die PARI Sichtweise oder den allgemeinen Stand der Wissenschaft wider.


Wie bewerten Sie diesen Artikel?

Sternebewertung
Bewertung abgeben

Ein Beitrag der PARI-BLOG Redaktion.


PARI Atemwegs-Post – Ihr Newsletter rund um Atemwegs-Gesundheit

Melden Sie sich jetzt zur PARI Atemwegs-Post an mit wertvollen, hilfreichen Informationen rund um das Thema Atemwegs-Gesundheit. Sie erhalten die PARI Atemwegs-Post in der Regel einmal im Monat.

Zurück zur Übersicht